Ostsee-Umrundung | gesamt 7.516 km
Møns Klint (DNK) – Puttgarden (DEU) | Tag 96 | heute 105 km
Beim Frühstück gesellen sich Randy und Ida nach einer Weile zu mir und erzählen mir von ihrem morgendlichen Ausflug zum Meer. Die beiden sind begeisterte Eisschwimmer, und so haben sie heute morgen als allererstes den Sprung in die Ostsee gewagt. Die Temperaturen liegen in Meer und Luft bei circa 12 Grad Celsius, der Wind ist nicht mehr so streng wie gestern, aber frisch wird es allemal gewesen sein. Beide sind hellwach, das wäre ich danach auch.
Wir setzen unsere Gespräche von gestern Abend fort, machen ein Abschiedsfoto und Ida schenkt mir noch eine ihrer Cremes gegen trockene Haut, die sie verkauft. Sie meint, sie sei sicher im Gesicht sehr beansprucht bei der Tour, da sie ständig der Witterung ausgesetzt ist. Ich lache, und sage: „Ja, eine Creme hat meine Haut schon länger nicht mehr gesehen, das ist dir sicher als Profi direkt aufgefallen!“
Heute fällt den ganzen Tag Nieselregen. Meine Route führt westlich die Insel Møn entlang und mein GPS führt mich auf einen Weg, der kaum noch mit meinem Rad zu bewältigen ist. Als Belohnung folgt ein circa zwei Kilometer langer Weg direkt entlang der Küste. Mein Rad sieht danach allerdings aus wie ein suhlendes Wildschwein!
Historische Holzfähre IDA
Ich verlasse Møn und bin mir ziemlich sicher, dass ich die hübsche Insel mit ihrem wundervollen Kliff irgendwann wiedersehen werde. Mit der historischen Holzfähre IDA aus dem Jahr 1959 setze ich von Bogø über nach Stubbekøbing. Ich bin ein Glückskind, denn natürlich fährt sie eigentlich nur zur Sommerzeit. Allerdings nimmt sie in den Herbstferien noch einmal für eine Woche den Betrieb auf, erst seit gestern fährt sie wieder. Nach meiner Erfahrung mit Fähren in Schweden habe ich das natürlich vorher geprüft. Sie ist Teil meiner Berechnung für meine 105 Kilometer, die ich heute fahren muss, um meine zweite Fähre nach Fehmarn zu bekommen. Ich muss keine zwei Minuten warten, da fährt sie auch schon los. Ich war genau rechtzeitig, sonst hätte ich eine Stunde warten müssen. Und es ist auch noch eine Privatfähre, ich bin der einzige Fahrgast an Bord.
Um mein Kilometerbudget nicht übermäßig zu beanspruchen, wähle ich den Weg über Land, statt weiter an der Küste entgegen meiner Zielrichtung zu fahren. Die Strecke ist dann auch wenig spektakulär, zumal sich alles wolkenverhangen grau in grau zeigt.
Mein erster Platter auf Tour
Vor mir wird es überraschend dunkel, erwartet habe ich das nicht, denn es war kein Regen angekündigt. Ich denke noch über das Wetter nach, da ‚zissssscchccccchhhhh’…….natürlich weiß ich sofort, was los ist. Ich fluche, was das Zeug hält. So schnell wie mein Vorderreifen Luft verliert, muss ich mir eine Scherbe eingehandelt haben. Innerhalb von fünf Sekunden ist der Reifen platt. Ich sichte den Schaden, und in der Tat klafft ein großes Loch in dem Mantel, in dem zwei große Scherben stecken.
So suche ich den Weg ab, und am Rand sind weitere Scherben einer zerbrochenen Flasche, die ich einfach nicht gesehen habe. Nun ja, wie oft haben wir auf der Tour Scherben erwischt, konnten nicht mehr ausweichen, haben erschrocken und prüfend die Mundwinkel nach außen gezogen – und es ist nichts passiert.
Es hilft nichts, ich muss alle Taschen runternehmen, das Fahrrad auf den Kopf stellen und den Vorderreifen ausbauen. Die Scherben kann ich anschließend mit einem Schraubendreher herausdrücken. Ich flicke den Schlauch und entscheide mich, meinen schmaleren Ersatzmantel nicht zum Einsatz zu bringen, den ich stets dabei habe. Stattdessen flicke ich den 1 Zentimeter breiten Spalt mit Hilfe von Panzertape, das ich von innen in den Mantel klebe. Das wird natürlich nicht von Dauer sein können. Ich hoffe aber, dass es für die restlichen 50 Kilometer hält, und ich nicht erneut das Rad abpacken muss.
Ich hatte meiner Frau wohl in einer Vorahnung gesagt, sie solle einen Ersatzmantel aus dem Keller nach Fehmarn mitbringen. Er war eher für das Hinterrad gedacht, da der neue Mantel dort ein Standardmantel ist, doch er scheint sich gut zu halten nach dem Wechsel in Sölvesborg. Im flachen Dänemark sind die Belastungen nicht so extrem wie bislang. Okay – außer durch Scherben. Nun weiß ich, wofür der neue Mantel ist, das Vorderrad braucht in jedem Fall Ersatz. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich durch den Schlitz etwas durchdrückt und für den nächsten Platten sorgt.
Bemerkenswert, es ist der erste platte Reifen nach 7.450 Kilometern! Am Tag vor meiner Pause, 50 Kilometer bevor ich zurück nach Deutschland komme.
Leidensgenosse
Ich habe auf der Fahrt nicht einmal einen einzigen Radfahrer mit Plattem am Straßenrand getroffen. Nachdem ich 15 Kilometer weiter gefahren bin, traue ich meinen Augen nicht. Links am Straßenrand ist ein Rennradfahrer, der gerade seinen Reifen flickt. Ich halte an und frage ihn, ob ich ihm helfen kann. Es ist auf seiner Tour von 250 km bereits sein achter Platter! Ich erzähle ihm, dass ich heute vor nicht einmal einer Stunde nach über 7.400 km meinen ersten Platten hatte. „Dänemark, Land der platten Reifen!“, scherze ich.
Johann ist Däne und langsam ein wenig in Not, da er nur noch einen Flicken übrig hat. Da kann ich ihm helfen und gebe ihm einfach zwei meiner Flicken ab. Wir stehen im Regen und lachen, trotz unserer Platten. Was für ein seltsames Zusammentreffen das doch ist. Zur Motivation gebe ich ihm noch ein paar meiner Schokodrops ab. Nachdem ich sicher bin, dass ihm technisch nichts mehr fehlt, wünsche ich ihm eine plattenlose Fahrt und fahre weiter.
Knapp 40 Kilometer durch Regen in beginnender Dunkelheit folgen. Ich durchfahre Maribo und freue mich, dass die Distanz schrumpft.
45 Minuten dauert die Überfahrt mit der Fähre, die ausdrücklich schriftlich und akustisch Werbung für ihre Abgasreinigung macht. Man merkt, dass auch die Schifffahrt unter Druck ist. Gut so. 120 Autos passen auf das obere und 25 Trucks auf das untere Deck. Und mein Fahrrad. Die Überfahrt kostet mit Fahrrad 80 dänische Kronen, circa 9 €.
Nach 96 Tagen Fahrt betrete ich mit meinem Rad um 19:45 Uhr in Puttgarden wieder Deutschland und darf meine Familie für eine Woche in die Arme schließen. Inklusive Pilar, unserer Hündin. Wir haben uns zwar alle nach der Geburt unseres Enkelkindes Milan gesehen, aber das ist auch schon einige Zeit her, ich war zu dem Zeitpunkt in Tallin. Lange nehme ich Julian und Susanne in den Arm.
Was machen wir mit der Zeit? Sie miteinander verbringen, denn das ist genau das, was wir die ganze Zeit nicht konnten. Für mich ist es auch eine Erholungswoche für die geschundenen Gelenke und Muskeln. Ich bin gespannt, wie schwer mir dann kommenden Sonntag der Abschied von der Stippvisite in Deutschland fällt. Und wie gut ich in die letzte Woche meines Baltic Sea Projects entlang des EuroVelo 10 hineinfinden werde. Halte ich es aus, eine Woche nicht mit demRad zu reisen?
2 Kommentare
Lieber Opa,
Jeden Tag liest mir meine Mama von deinen Abenteuern vor. Ich höre dann meistens ganz gespannt zu, auch wenn ich vielleicht noch nicht alles von dem was du schreibst verstehe. Meine großen Augen funkeln dann immer – ab und an huscht auch ein kleines Lächeln über mein Gesicht.
Meine Mama sagt, dass immer so viele nette Leute deine Abenteuergeschichten kommentieren…
Jetzt bin ich doch schon 9 Wochen alt und möchte dir nun auch ein kleines „Auuuuhhh grrrehh“ da lassen!
Was das genau bedeutet, weiß ich auch nicht, aber das finden wir wohl bald zusammen raus. Ich freue mich sehr, bald mit dir kuscheln und Quatsch machen zu können. Erleben wir (wenn ich alt genug bin) auch so tolle Abenteuer zusammen?
Dein Milan
Lieber Milan,
danke, dass du mir schreibst! Ich denke ganz oft an dich! Nein – fast ständig, denn ein Aufkleber mit deinem Namen klebt auf meinem Rahmen, so dass ich ihn ständig beim Fahren sehen kann. So bist Du auch immer irgendwie bei mir und mit mir ab Tallin durch Estland, Russland, Finnland, Schweden und Dänemark gefahren. Auf dem Aufkleber steht nicht nur dein Name, sondern es ist auch ein roter Milan darauf, den deine Mama gezeichnet hat. Und manchmal flog in Schweden auch über mir ein Milan. Dann war ich ganz besonders eng in Gedanken bei dir, bin stehen geblieben, und habe diesen freien wunderbaren Greifvogel sehnsüchtig beobachtet.
Du hast eine wunderbare Mama, dass sie dir all meine Abenteuer und Gedanken vorliest. Oft habe ich mir gewünscht, wieder bei dir und deinen tollen Eltern zu sein, und schon bald wird es soweit sein!
Dein ‚Auuuuhhh grrrehh‘ kann ich in meinem Herzen verstehen. So wie ich mit den Wildgänsen gen Süden ziehe und ihre Rufe zu verstehen meine.
Ich hoffe, bald mit dir kuscheln zu können und viele kleine und große Abenteuer erleben zu dürfen. Das Leben bietet uns so viele davon – wir müssen sie nur zulassen.
Sei lieb umarmt und gedrückt bis dahin,
Dein Opa