Kemi (FIN) – Haparanda (SWE) | Tag 66 | heute 64 km | gesamt 4.956 km
Kalt, windig und sonnig ist es heute früh, und ich reise stadtauswärts am Wasser entlang.
Hinter Kemi bei Keminmaa überquere ich den Keminajoki, einen wirklich kräftigen Strom, der auch zur Stromgewinnung genutzt wird. Das Stauniveau der beiden Seiten ist deutlich unterschiedlich.
Dann komme ich zu einer Schlüsselstelle, der Straße zum Nordkapp. Ich mache ein Foto und setze mich am Radweg auf die Leitplanke. Etwas in mich gekehrt weiß ich, dass ich gleich weiterfahren werde und die letzte Entscheidung erst in Haparanda fallen wird, bzw etwas nördlich.
Bevor ich zu tief in Gedanken versinke, spricht mich ein älterer Finne auf einem Rad an, woher ich komme. Wir kommen ins Gespräch, und er lädt mich auf einen Kaffee bei sich zu Hause ein, 500 Meter weiter, wo er gerade herkommt. Das passiert nach 5000 Kilometern das erste Mal! Ich fahre mit und merke, als ich hinter seinem Rad mit mächtiger Acht im Hinterrad fahre, dass er eine Alkoholfahne hat. Da er aber freundlich scheint, komme ich mit. Er zeigt mir sein Haus mit allen Räumen. 40 Jahre lebt er dort, es ist sein Eigentum mit vier Hektar Land. Stolz zeigt er mir das riesen Mischpult seines Sohnes, der Gitarre spielt und einmal im Monat vorbeischaut. Es ist vollkommen verstaubt. Die Bilder zweier seiner hübschen Töchter stehen auf dem Kamin und er sagt immer wieder: „Sind sie nicht hübsch!“ Die Räume sind sehr leer und die Töchter sieht er nur einmal im Jahr. Ich trinke den schwarzen Kaffee und schaue mir die alte russische Wanduhr, und die antiken Möbelstücke an. Eins der beiden alten Röhren-Radios aus den 1950er Jahren nimmt er für mich in Betrieb. Mittendrin in den historischen Gegenständen der 67 jährige, der mit gebrochenem Englisch manchmal wiederholend erzählt. Mir wird bewusst, wie alleine er ist. Beim Abschied wünscht er mir alles Gute für meine Reise und nimmt mich mit sichtlich Tränen in den Augen in den Arm. Er tut mir sehr leid, so einsam und traurig wie er ist.
In Tornio biege ich ab Richtung Norden. Tatsächlich ist der ein oder andere irritiert, der mein Live-Tracking verfolgt (also sicher jeder!). Denn es ist die direkte Straße zum Nordkapp. Ich bekomme WhatsApp Nachrichten und Kommentare. Der Weg führt mich aber nur ungefähr 18 Kilometer flussaufwärts zu der Stelle, die mir die Chinesin im Snow Hotel Kemi empfohlen hatte. Regen setzt ein, aber ich möchte unbedingt hin.
Der Weg lohnt sich. Spektakulär ziehen Netzfischer aus dem hier wilden Strom Fische mit einem kleinen Netz an einem sicher acht Meter langen Stiel. Das ist mal eine nachhaltige Fangmethode. Und im Minutentakt fangen sie tatsächlich Fische.
Hier treffe ich die Entscheidung , nicht zum Nordkapp weiterzufahren, oder vielleicht habe ich sie längst getroffen. Ich habe nach genau 4.936 Kilometern den nördlichsten Punkt meiner Reise erreicht. Ich drehe im Regen ein kleines Video an diesem bemerkenswerten Ort und mache auf Facebook ein Live-Video zur Entscheidung.
Was hat mich bewogen, nicht weiter zu fahren? Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht, seit Helsinki denke ich intensiv darüber nach. Meine Beweggründe lest ihr im Special ‚Nordkapp oder nicht Nordkapp, das ist hier die Frage‘.
Nun hat es sich ganz zugezogen, dichter Regen zieht über Lappland. Ich kann für kleines Geld einen der frisch geräucherten Fische erstehen und trinke einen warmen Kaffee dazu. Dann ziehe ich die komplette Regenmontur an und fahre zurück nach Tornio, um über die grüne Grenze nach Schweden in die Grenzstadt Haparanda zu fahren. Die Grenze ist so grün wie von Deutschland in die Niederlande, so dass ich kein Grenzschild fürs obligatorische Foto sehe und zunächst in der nahen Jugendherberge einchecke. Haparanda hat nicht viel Schönes zu bieten, außer den kleinen Kern mit den hübschen Gebäuden auf den Fotos. Sie stehen direkt nebeneinander und beherbergen Hotels. Mein Rad braucht nach dem Speichenbruch und der heutigen Kälte etwas Liebe und kommt mit aufs Zimmer.
Später fahre ich noch einmal 2 Kilometer zurück nach Finnland, und schaffe es ein Schild zu finden. Schweden! So kann ich auch das Rad für ein Foto stemmen – mit Gepäck undenkbar!
Abends verarbeite ich diesen intensiven Tag voller Erlebnisse, einem Grenzübertritt und der Nordkapp Entscheidung. Morgen hätte ich auf dem Weg gen Norden die Hälfte der 10.000 Kilometer überschritten. Schlagartig habe ich nun mehr als die Hälfte, nämlich 4.956 von 8.400 Kilometern erreicht. Und befinde mich am Top der Ostsee. Vor knapp 4.900 Kilometern sagte ich zu Tristan in Travemünde mit Blick auf die Ostsee: „Schau, da wo wir nicht mehr hinsehen können, da möchten wir hin“. Und wir haben mit den Händen eingeschlagen. Heute stehe ich zur Halbzeit stolz hier. Auch psychisch beginnt nun die Rückfahrt – was aber auch physisch zuträglich ist. Und es fühlt sich irgendwie an, als ginge es jetzt abwärts. Das ist natürlich Quatsch, aber es ist ein gutes Gefühl!
Ich versuche die Rückfahrt nun etwas entspannter anzugehen, und so fahre ich morgen nur 50 Kilometer bis Kalix, da die Infrastruktur anschließend keine Unterkünfte ergibt und ich keine 150 Kilometer bis Luleå fahren möchte.
Es ist gut, den Herbst im Rücken zu wissen, und nicht den Winter, der mir heute schon seinen kalten Wind ins Gesicht geblasen hat. Schließlich muss ich den Abstand noch 3.400 Kilometer lang wahren und ihn meinen Freund nennen!
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