Ostsee-Umrundung | gesamt 3.355 km
выборг (RUS) | Tag 46 | heute 10 km
Es war eine ruhige Nacht im Zimmer, das russischem Standard entspricht. Meine Geräte sind nicht aufgeladen. Ich habe zwar das Laden kontrolliert, ahnte aber noch nicht, dass die Lichtschalter auch die verschiedenen Steckdosen schalten. Da muss man erstmal drauf kommen. Aber bei uns lassen sich Menschen extra solche Stromfrei-Schaltungen bauen, um keine Störungen im Schlaf zu haben. Also, positiv sehen!
Gespräch mit Vladimir
Beim Frühstück spreche ich lange mit einem Russen, punkige Frisur, circa Anfang 50. Vladimir ist 1984 nach Japan als politischer Flüchtling und lebt heutzutage in Finnland. Er nimmt kein Blatt vor den Mund: „I love my country, but I hate my regime!“. Währenddessen laufen im Fernsehen auf dem 1. russischen Programm in 20 Minuten dreimal Kriegsszenen aus dem 2. Weltkrieg mit schwer antideutscher Propaganda, wie er mir sagt. „How can the next generation change their mindset with this?“, fragt er mit Recht.
Communism propaganda
Wir sitzen zwei Tische auseinander, und es ist offensichtlich, worum es geht. Ich spüre die Blicke im Frühstücksraum auf mich und ihn gerichtet. Er erzählt mir später, dass der ältere Mann am Nachbartisch gesagt habe, dass er niemals Englisch sprechen würde, dann noch mit einem Deutschen. In den 1980er Jahren wäre Vladimir für das Gespräch mit mir noch verhaftet worden, sagt er. Es sind nicht die Menschen, es ist der Staat, der das mit ihnen macht. „It is the communism propaganda, that is still played every day by Putins regime“, sagt er laut. Ein Wunder, dass alle sitzen geblieben sind. Ich verabschiede mich mit „It isn’t important where we are from. We are earth citizens, man!“ „Wise words“, sagt er, schüttelt mir die Hand und wünscht mir eine gute Reise. Ich soll in Russland immer auch ein Auge hinten haben, meint er. „You never know!“.
Die Situation erschüttert mich
Nachdem er gegangen ist, werde ich noch lange gemustert, besonders von den Tischen mit der älteren Generation. Sie sprechen ganz offensichtlich über mich, und ihre Blicke sind nicht freundlich. Ich versuche freundlich zu lächeln, ohne zu provozieren. Ich bin doch auf Tour, um Herzen zu öffnen und Grenzen einzureißen. Hier gelingt es mir nicht, es braucht wohl noch Zeit. Was es nicht braucht, ist Staatspropaganda im Fernsehen, denke ich. Es treibt mir beim Schreiben tatsächlich die Tränen in die Augen, so traurig macht es mich. Bevor ich etwa zehn Minuten später den Frühstücksraum verlasse, muss ich mich erst einmal sammeln. Es hat mich wirklich erschüttert.
Aber: Es war nur ein Fenster, sage ich mir. Ich habe freundliche Russen kennengelernt, so wie die beiden Radler, die mich nach St. Petersburg begleitet haben. Und viele ganz junge sind auch deutlich aufgeschlossener.
Draußen regnet es in Strömen. Das lässt sich von innen gut betrachten. Ich habe mir ein anderes Hotel gebucht, dieses ist ausgebucht. Als ich in die Lobby komme, weiß ich warum: eine deutsche Reisegruppe. Es ist Freitag.
Im anderen Hotel ‚North Crone‘ werde ich freundlich begrüßt und buche mir für Nachmittags ab 17:00 Uhr für 500 Rubel zwei Stunden die Sauna. Wenn schon entspannen, dann mal richtig.
Kurios: Die Wettervorhersage hatte nur teilweise Recht: Das Schlechtwetterband ist nördlich gedriftet, ab 13:30 Uhr ist der Regen zunächst vorbei. Egal, morgen hau ich rein und verlasse Russland, heute entspanne ich. Nichtstun fällt mir immer noch schwer.
Die Fette Katharina
Mittagspause lege ich in dem historischen Rundturm „Fette Katharina“ ein. Das ‚Businessmenü‘ mittags ist oft sehr günstig und wird meist von Russen wahrgenommen. Sobald ich es aber lese, weiß ich: Authentisches Essen, Suppe, Brot, Salat, Hauptgericht, Getränk für kleines Geld. 280 Rubel zahle ich für alles, das sind 3,81 €. In der unteren Etage lausche ich anschließend bei einem Kaffee den Klängen einer russischen Sängerin.
Ich mache noch einen Ausflug zu den Stadtmauern, den Tipp habe ich im Hotel bekommen. Am Monument für Fyodor Apraksin lege ich eine Fotosession ein. Er war als Admiral einer der Gründer der russischen Flotte und Verbündeter von Peter dem Großen. Der Burgturm im Hintergrund ist allgegenwärtig.
Die Stadtmauern um Wyborg sind durchaus sehenswert, und weitläufig, aber auch dem Verfall preisgegeben, wie man auf den Bildern gut sehen kann. Daraus ließe sich wirklich einiges machen.
Noch in den Park, der eine weitere Empfehlung war? Nein, diesmal nicht wie in St. Petersburg, sondern ins Café, in Ruhe ein Stück Kuchen mit einem Cappucino. Und den Blog schreiben, dann kann ich morgen früh los. 125 Kilometer stehen auf der Agenda. Von Russland nach Finnland!
Meine russischen Vokabeln helfen mir weiter
Abends fängt es wieder an zu schütten, und ich bin froh, dass ein Supermarkt direkt über eine lange Passage mit dem Hotel verbunden ist. So wie ein Restaurant, in dem ich es wohl meinem freundlichen russischen Gruß zu verdanken habe, dass ich eine rein russische Speisekarte bekomme. Als sie nach fünf Minuten bemerken, dass ich mich etwas schwer tue, bringen sie mir lachend eine Übersetzung. Die beiden jungen Russinnen sind sehr freundlich, und die Stimmung ist gut, eine russische Feier findet lautstark im Nebenraum statt, mit Gesang und Spielen. Vielleicht der Abschluss, den ich in Russland brauche. Wir sehen uns morgen beim Frühstück wieder. Freundlich sage ich спокойной ночи, und sie freuen sich über meine Bemühungen!
Übrigens: Heute habe ich es dann auch endlich mal geschafft, auf meinem Tolino zu lesen – das erste Mal nach 46 Tagen! Der ruhige Tag hat mir sicher gut getan.
3 Kommentare
Lieber Bernd,
irgendwie bin ich froh, dass du das Kapitel Russland jetzt hinter dir hast, wie man auf der Karte schon sehen kann. Du hast sicher viel Positives dort erlebt, aber du scheinst ja beim Mütterchen R. auch eine Menge erfahren zu haben, was im Nachhinein super zu erzählen ist, aber Live… Z. B. zig Kilometer auf mehrspurigen Straßen zwischen Autos mit rücksichtslosen Fahrern. Oder unfreundliche Menschen in trister Umgebung… Aber auch das sind Erfahrungen, die dir keiner nehmen kann. Und uns auch nicht, denn wir erleben es dank deiner lebhaften Schilderungen sehr nah mit. Vielen Dank für den tollen Blog und eine weiter interessante und schöne Fahrt mit vielen positiven Begegnungen!
Lieber Bernd,
wir verfolgen deine Reise mit großem Interesse und haben durch deine lebhaften und ausführlichen Beschreibungen fast das Gefühl, ein kleines bisschen mitzureisen. Danke dafür. Weiterhin alles Gute, super Radwege, hin und wieder ein schönes Hotel, nette Menschen, die einen netten Menschen treffen
Liebe Ise und lieber Manni,
euch nehme ich immer gerne mit! Schön, dass es mit der Kommentarfunktion geklappt hat! Ich versuche wirklich authentisch zu schreiben und rüberzubringen, wie es mir geht. Schön, dass das rüberkommt!
Aktuell seht ihr Milan vermutlich öfter als ich 🙂
Radreiseglückliche Grüße ins schöne Jülich sendet euch Bernd