Ostsee-Umrundung | gesamt 2.653 km
Tallinn (EST) | Tag 33 | heute 0 km
Es regnet. Ich beschließe zunächst auszuschlafen und dann die Wäsche zu waschen. Eine Waschmaschine! Yippieh!
Dann versuche ich ein Kabel zu meinem USB Lader am Fahrrad auszutauschen, das nicht so richtig will. Nach knapp einer Stunde möchte ich das vor meiner Abreise neu bestellte einsetzen – es hat einen anderen Anschluss. Also alles umsonst. Auf geht’s gegen 13:00 Uhr in die Stadt, erstmal zur Motivation einen Kaffee und ein Croissant.
Estlands Haupstadt
Der erste Weg in Estlands Hauptstadt führt mich zur 2009 erbauten 23,5 Meter hohen Siegessäule aus 143 Glasblöcken, die an den Sieg im Freiheitskrieg 1918-1920 mit der Unabhängigkeit Estlands erinnert. Das Freiheitskreuz an der Spitze ist ein Militär-Ehrenzeichen aus jener Zeit. Edgar erzählte, dass am Jahrestag hier Militärparaden abgehalten werden.
1,3 Millionen Einwohner hat Estland, davon 450.000 in Tallinn. Dabei haben ca 44% als Muttersprache russisch, was an jeder Ecke sprachlich wahrzunehmen ist.
Eine erste Niederlassung Tallinns gab es hier bereits vor 11.000 Jahren. Die intensivste Entwicklung fand jedoch in den letzten 1000 Jahren statt. Die Vormacht in Tallin war als Hafenstadt hart umkämpft, alle wollten ihren Anspruch geltend machen, besonders Deutschland, Dänemark, Finnland, Polen, Schweden und Russland. Die Burg und die spätere Stadt wurden zunächst von Deutschen und Dänen geprägt und hieß bis 1918 Reval, bis 1889 war die Amtssprache Deutsch.
Eine mittelalterliche Stadt mit zwei Ebenen
Die Oberschicht lebte im Mittelalter auf dem Domberg, die Unterschicht im unteren Bereich. Jeden Abend wurde der Gang zum oberen Teil mit einer bis heute erhaltenen schweren Holztür verschlossen. Symbolisch wird die Öffnung dieser Tür auch heutzutage noch einmal jährlich zelebriert.
Tallinn hat eine der besterhaltenen Stadtmauern weltweit, der Bau dauerte 300 Jahre. Die St. Nicholas Church von 1240 wurde als Festung genutzt, bis die Stadtmauer errichtet war.
Bis zu einem Drittel von Tallinn wurde im zweiten Weltkrieg vor allem durch Russland zerstört. In den sowjetischen Terrorwellen nach 1940 und dann wieder ab 1944/45 wurde insgesamt jeder fünfzehnte Este ermordet und jeder siebzehnte zumindest für zehn Jahre nach Sibirien verschleppt (Quelle: Wikipedia).
Die Bedeutung der Estnischen Flagge
Angrenzend an das Parlamentsgebäude steht der Turm ‚Langer Hermann‘. Er repräsentiert mit Estlands Flagge, die jeden Tag gehisst wird, die aktuelle Regentschaft. Weiß steht für eine bessere Zukunft, Schwarz für den Boden und Blau für die Flüsse, Seen und das Meer.
Estlands Kampf um Unabhängigkeit
Unsere Stadtführerin erzählt lange über die singende Revolution der nationalen Bewegungen im Baltikum 1987 bis 1991 und den gewaltlosen Kampf um die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Die nationalen Lieder zu singen war den baltischen Staaten lange verboten. Schließlich bildeten mit dem ‚Baltischen Weg‘ 2 Millionen Menschen eine 640 Kilometer lange Kette durch das ganze Baltikum. Sie führte vom ‚Langen Herrmann‘ über Riga in Lettland bis nach Vilnius in Litauen. Die mühsam vereint errungene wiedererlangte Unabhängigkeit erklärt den Stolz der Estländer auf ihr Land.
Alle Augen fallen nun auf die imposante russische Kirche auf dem Domberg. Sie ist Estlands Hauptkathedrale des russisch-orthodoxen Glaubens. Weiter geht der Weg entlang der Domkirche, der ältesten Kirche in Tallinn von 1220. Mehrere Besucherplattformen in der erhöht liegenden mittelalterlichen Altstadt bieten einen wundervollen Blick über die alten Häuser und die Neustadt. Die Tour endet am Markt mit all seinen bunten Ständen, das angrenzende stolze Rathaus ist von 1404.
Kuriosität am Rande: Mitten in der Stadt am Harju Street Park wurden für viele Millionen Euro Grundstücke von Privaten abgekauft, um das Gelände zu gestalten. Nur ein Widerständer will nicht verkaufen. Er pflanzt in diesem Jahr stattdessen dort mitten in Tallinn sehr bodenständig Kartoffeln an.
Was macht das Enkelkind?
Exkurs: Was macht denn eigentlich das Enkelkind, werdet ihr euch seit Tagen fragen. Ich mich auch! Er will einfach noch nicht… Wusstet ihr, dass Skype in Estland entwickelt wurde und sich das Forschungszentrum hier befindet? Trotzdem keine Alternative für die Begrüßung des Enkelkinds! Allerdings ist Tallinn für mich der letzte Hafen, genauer: Flughafen. Danach kommt lange nichts, St. Petersburg geht nicht, weil ich nicht wieder zurückkomme (Visum!), und in Finnland plane ich Helsinki durchs Land abzukürzen. Die kleinen Flughäfen haben nur Chartermaschinen, das ist sauteuer. Also fällt die Entscheidung: Ich fliege von Montag bis Mittwoch zurück, die Baby-Trefferquote ist sehr hoch. Kurz vor der Buchung wird der Flug nochmal 50 € teurer, zu dumm.
Mein Aufenthalt in Tallinn verlängert sich damit um zwei Tage. Ich nehme es entspannt, war ich doch die vergangenen Tage sehr kilometer- und zeitgetrieben! Ich muss mal etwas runterkommen. So gehe ich als erstes zum Barbier und lasse mich für meinen Besuch in Deutschland wieder in Form bringen.
Abends texte ich entspannt bei einem Gin Tonic in einer Lounge. Was steht morgen an? Weiter die Knochen schonen, und die Stadt erkunden. Außerdem die Tallin Legends besuchen, ein interaktives Museum mit Theaterdarstellungen, das Edgar schon lang besuchen möchte. Na, dann muss es gut sein! Außerdem das Festungsmuseum ‚Kiek in de Kök‘, so kommt man auch auf die Stadtmauer.
4 Kommentare
Hallo Bernd,
Danke fuer deine tollen Berichte und Fotos, sehr beeindruckend!!
Ich wuensche dir eine schöne „Reisepause“ bei der Familie und HOFFENTLICH die Ankunft des Enkelchens.
Aĺles Gute
Charlott
P.s. Heute abend ist Sommerfest im Welthaus, da koennen wir auf dich anstossen….
Dankeschön, liebe Charlott! Tut bestimmt gut. Und ich bin aus bester Quelle seeeeehr zuversichtlich, dass das Enkelchen dann da ist!
Freut mich, dass Dir die Berichte gefallen, es steckt auch viel Arbeit drin!
An alle ein schönes Sommerfest!
Radreiseglückliche Grüße
Bernd
Hallo Bernd,
abgesehen von den Eindrücken der Landschaft und den Orten, die Du auf dieser Tour gewinnst, sind es doch die Menschen, denen Du begegnest, die diese Tour wirklich prägen.
Und das Du dann bei Edgar ganz selbstverständlich unter kommen kannst, zeigt für mich, wie großartig die Welt ist. Ich bin weiter begeistert und schmökere liebend gern Deine Berichte.
Wünsche Dir noch einen spannenden Aufenthalt in Tallinn und dann einen fantastischen Kurztripp zu Deinen Liebsten!
Und das allerwichtigste: Eine problemlose Geburt Deines Enkelchen und alles Gute Deiner Tochter und Ihrem Auserwählten ?
Weiter viel (Rad)Reiseglück!
LG,
Marcel
Danke, lieber Marcel, für Deine immer motivierenden und positiven Kommentare, die ich echt zu schätzen weiß! Gerade saß ein Ire neben mir und meinte: Life is good man, this is what the Irish people always say!
So ist es wohl, und ich freue mich sehr aufs Enkelchen!
Die Begegnung mit Edgar und seiner Familie ist etwas ganz besonderes. Eine solche Gastfreundschaft und daraus entstandene Freundschaft ist mir noch nie begegnet.
Radreiseglückliche Grüße
Bernd